*DAS GESCHENK*
Joe Lederer
Einmal habe ich eine Zeitlang in China gelebt. Ich war im Frühling in Shanghai angekommen, und die Hitze war mörderisch. Die Kanäle stanken zum Himmel, und immer war der ranzige, üble Geruch von Sojabohnenöl in der Luft. Ich konnte und konnte mich nicht eingewöhnen. Neben Wolkenkratzern lagen Lehmhütten, vor denen nackte Kinder im Schmutz spielten. Nachts zirpten die Zikaden im Garten und ließen mich nicht einschlafen.
Im Herbst kam der Taifun, und der Regen stand wie eine gläserne Wand vor den Fenstern. Ich hatte Heimweh nach Europa. Da war niemand, mit dem ich befreundet war und der sich darum kümmerte, wie mir zumute war. Ich kam mir ganz verloren vor in diesem Meer von gelben Gesichtern.
Und dann kam Weihnachten. Ich wohnte bei Europäern, die chinesische Diener hatten. Der oberste von ihnen war der Koch, Ta-tse-fu, der große Herr der Küche. Er radebrechte deutsch und war der Dolmetsch zwischen mir und dem Zimmer-Kuli, dem Ofen-Kuli, dem Wäsche-Kuli und was es da eben sonst noch so an Dienerschaft im Haus gab. Am Heiligen Abend, ich saß wieder einmal verheult in meinem Zimmer, überreichte mir Ta-tse-fu ein Geschenk. Es war eine chinesische Kupfermünze mit einem Loch in der Mitte, und durch das Loch waren viele bunte Wollfäden gezogen und dann zu einem Zopf zusammengeflochten. "Eine sehr alte Münze", sagte der Koch feierlich. "Und die Wollfäden sind von mir und mein Frau und von Zimmer-Kuli und sein Schwester und von Eltern und Brüder von Ofen-Kuli, von uns allen sind die Wollfäden."
Ich bedankte mich sehr. Es war ein merkwürdiges Geschenk - und noch viel merkwürdiger, als ich zuerst dachte. Denn als ich die Münze mit ihrem bunten Wollzopf einem Bekannten zeigte, der seit Jahrzehnten in China lebte, erklärte er mir, was es damit für eine Bewandtnis hatte:
Jeder Wollfaden war eine Stunde des Glücks. Der Koch war zu seinen Freunden gegangen und hatte sie gefragt: "Willst du von dem Glück, das dir für dein Leben vorausbestimmt ist, eine Stunde des Glücks abtreten?"
Und Ofen-Kuli und Zimmer-Kuli und Wäsche-Kuli und ihre Verwandten hatten für mich, für die fremde Europäerin, einen Wollfaden gegeben, als Zeichen, dass sie mir von ihrem eigenen Glück eine Stunde des Glücks schenkten. Es war ein großes Opfer, das sie brachten. Denn wenn sie auch bereit waren, auf eine Stunde ihres Glücks zu meinem Gunsten zu verzichten - es lag nicht in ihrer Macht zu bestimmen, welche Stunde aus ihrem Leben es sein würde. Das Schicksal würde entscheiden, ob sie Glücksstunden abtraten, in denen ihnen ein reicher Verwandter sein Hab und Gut verschrieben hätte, oder ob es nur eine der vielen Stunden sein würde, die sie glücklich beim Reiswein saßen; ob sie die Glücksstunde wegschenkten, in der das Auto, das sie sonst überfahren hätte, noch rechtzeitig bremste - oder die Stunde, in der das junge Mädchen vermählt worden wäre.
Blindlings und doch mit weit offenen Augen machten sie mir, der Fremden, einen Teil ihres Lebens zum Geschenk.
Nun ja, die Chinesen sind abergläubisch. Aber ich habe nie wieder ein Weihnachtsgeschenk bekommen, das sich mit diesem hätte vergleichen lassen.
Von diesem Tag an habe ich mich in China zu Hause gefühlt. Und die Münze mit dem bunten Wollzopf hat mich jahrelang begleitet.
Ich habe sie nicht mehr.
Eines Tages lernte ich jemanden kennen, der war noch übler dran als ich damals in Shanghai. Und da habe ich einen Wollfaden genommen, ihn zu den anderen Fäden geknüpft - und habe die Münze weitergeschenkt.
***
Diese berührende Geschichte schlummert schon einige Jahre in meinem Bücherregal. Jedes Jahr habe ich den Zeitpunkt zum Erzählen verpaßt. Heuer kam sie mir zum Glück rechtzeitig in den Sinn :)
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Die entzückenden Bilder stammen alle von der fantasievollen Französin Gaëlle Boissonnard.
Wie anrührend! ...Danke...
AntwortenLöschenGerne, Ellen :)
LöschenWunderschön!!!!
LöschenWas für eine wunderschöne Geschichte. Vielen Dank dafür und noch eine schöne Adventszeit.
AntwortenLöschenVielen Dank! Dir auch eine schöne Adventszeit :)
LöschenZu Herzen gehend,danke für`s teilen.
AntwortenLöschenEin besinnliches Weihnachtsfest wünscht dir Meggy
Gerne, liebe Meggy :) Wünsche dir natürlich auch eine wundervolle Weihnachtszeit.....
LöschenLiebe Hanne,
AntwortenLöschenich kannte diese Geschichte nicht. Ich finde sie SCHÖN und drucke sie aus und nehme sie mit zur Weihnachtsfeier, die ich besuche und lese sie dort vor. Es wird uns ein Glück sein. Nur die Tradition mit dem Geldstück und den Wollfäden alleine ist ja schon ein Glück. DANKE
Eine sehr gute Idee von dir! Da haben ja dann noch mehr das Glück, dass sie was Schönes vorgelesen bekommen :)
LöschenNACHKLANG: Optisch hast Du diesen Post zu einem Gedicht gemacht.
AntwortenLöschenEine Geschichte zum Gedicht machen - das soll mir erst mal einer nachmachen ;) Dankeeee :)
LöschenWas für eine schöne Geschichte!
AntwortenLöschenJa, schenken macht glücklich!
Herzlichst Imei
Stimmt! Beides :)
AntwortenLöschenLiebe Hanne,
AntwortenLöschenich habe jetzt noch Tränen in den Augen, von dieser wunderschönen Geschichte von Joe Lederer
Lederer
Bin aus versehen auf veröffentlichen gekommen.Nochmals zu der
AntwortenLöschenGeschichte. Sie geht wirklich zu Herzen.Ganz besonders fand
ich auch "Nur Heute"von Ute. Du hast die Zeilen so schön
Bebildert.Einmalig! Ich werde sie ausdrucken, wenn ich darf.
Diese kleine Auszeit versüßt einem den ganzen Tag, wenn man
so was schönes findet. Liebe Grüße Hilde